Ausstellungsansicht Galerie Lisi Hämmerle. Foto: Laurenz Feinig

Noctuoidea. Narbe und Nachtfalter

Galerie Lisi Hämmerle, Bregenz, 25. Mai—28. Juni 2024
Installation mit großformatiger Malerei und Keramik

«Seine Anmut erhält der Flügel des Schmetterlings von einem Zögern.»
Bjung-Chul Han, Vita Contemplativa, 2022

Der Falter ist — obwohl ihn als Schmetterling das griechische Wort mit Psyche bezeichnet — kein Herrschaftstier, sondern ein Mangelwesen. Er gilt als Symbol für inbrünstiges Sehnen. Mit dem Insektensterben verringert sich der Bestand je nach europäischem Land um 60 bis 80% pro Jahrzehnt. Faktoren wie Klimaerwärmung, Pestizide, Biotopverlust, Dünger und Lichtverschmutzung tragen ihren Teil dazu bei. Wer trägt Verantwortung? Wer bewirkt Veränderung? Was können wir, achtsam lernend und ausgeliefert bewirken? 

Die großformatigen Malereien zeigen gefährdete Arten in Überlebensgröße. Falter, die uns nicht ansehnlich erscheinen, deren Verschwinden wir übersehen, bekommen im großen Format neue Bedeutung. In Überlebensgröße erscheint das Recht auf Artenschutz, die Fähigkeit zum Leid nicht mehr so weit hergeholt; die Bestäubung der Pflanzen als echte Arbeit; das Mud Puddling — Trinken von Blut, Schweiss und Tränen — unheimlicher.

Im tibetischen Buddhismus werden Gebetsmühlen gedreht, mit dem Wunsch, dass die in der Walze befindlichen Mantras zum Wohle der fühlenden Wesen wirken, deren Leid beseitigen und ihnen Glück bringen. Darstellende Kunst möge als Mantra wirken. Mit jeder einzelnen Fliese, mit jedem Bild wird der Nachtfalter — als nichtmenschliche Person — angerufen, so lange bis verbindliche, fein regulierte Gesetze ihn und seine Nachkommen vom Aussterben schützen.

Amrei Wittwer, 2024

Fotos: Laurenz Feinig

Margarete Zink über die Ausstellung, 2024

«Es existiert eine enorme Zone des Schattens, die nur die Literatur und die Künste durchdringen können.»
— Javier Marías

«Wo die Wissenschaft im Erklären der Welt versagt, reicht uns die Kunst aus dem Dunkel die Hand.»
— Amrei Wittwer

Als Wissenschaftlerin und Schmerzforscherin hat Amrei Wittwer im Wesentlichen die Wirkung von verschiedenen Methoden zur Schmerzlinderung und Heilung untersucht. Als Pharmazeutin – bis heute ist sie im Zweitberuf als Apothekerin tätig – beschäftigt sie sich ebenfalls mit den verschiedenen Facetten des Themas «Heilung». 15 Jahre arbeitete Amrei Wittwer zuvor als Forscherin und Autorin an der ETH Zürich. Ab 2009 war sie dann am Collegium Helveticum Zürich zuständig für transdisziplinäre Forschungsprojekte. Parallel dazu professionalisierte Amrei Wittwer ihre malerischen und bildhauerischen Fertigkeiten im Studium der freien Künste an der ZHdK Zürich, wo sie 2013 mit einem Master of Fine Arts (MFA) graduierte. Ihre theoretische Abschlussarbeit trägt den Titel Das Heilige heilt. In ihrer Installation im Rektorat der ZHdK, Fremd und Selbst, zeigt sie seriell vervielfältigte Abgüsse ihrer eigenen Körperteile, die sie wie in einem naturhistorischen Museum in nach oben verglasten Vitrinen ausstellt. Ausgehend von der wissenschaftlichen Forschung (ihrem eigenen, biografischen Bezug) untersucht sie im künstlerischen, umgestaltenden Prozess den eigenen Körper bis hin zur Materialisierung in Einzelteilen, bezugnehmend auf eine Tradition im katholischen Christentum, die kranken, schmerzenden Körperteile im sakralen Raum als Devotionalie auszustellen, um Heilung zu erbitten.

Seit 2017 lebt und arbeitet Amrei Wittwer wieder in Vorarlberg. Inzwischen hat sie einige Transformationen erlebt, die ihre Rolle als Künstlerin, als Frau, als Tochter und Mutter in unserer Gesellschaft betreffen. Als Künstlerin legt sie den Fokus nun auf Gestaltungsprozesse (Keramik oder Drucktechniken) und Gestaltungselemente (Symbole), welche als ein zentrales Thema die Verwandlung, die Metamorphose, auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck bringen können. Auffallend ist, dass sie sich mehr und mehr außerästhetischen Inhalten zuwendet, die uns als Gesellschaft stärker betreffen (wie Ökologie), und sie mittels künstlerischer Ausdrucksformen mit individuellen Empfindungen verbindet, ihre Wirkung erforscht.

Das Thema des aktuellen Werkzyklus ist der Nachtfalter, dessen wissenschaftliche Bezeichnung Noctuoidea lautet. Mit etwa 70.000 Arten weltweit ist Noctuoidea die mit Abstand größte und am meisten verbreitete Überfamilie der Schmetterlinge. In Europa gibt es aber nur 2250 Arten und Unterarten, viele davon vom Aussterben bedroht. In Vorarlberg gibt es viele seltene Arten, die ebenfalls auf der Roten Liste stehen. Bärenspinner, Eulenfalter, Zahnspinner, Trägspinner, Schwammspinner, Brauner Bär, das sind nur einige der faszinierenden Namen von Nachtfaltern. Das Naturhistorische Museum in Wien beherbergt in seiner Sammlung etwa 3,5 Millionen präparierte und einige hunderttausend unpräparierte Exemplare in ca. 11 000 Laden.

Macrolepidoptera of Austria Lepidoptera-Sammlung des NHM Wien

Für eine Installation in der Kunstbox in Feldkirch 2023 entwickelte Amrei Wittwer in Kooperation mit Karak Tiles ein aus der Symmetrie des Noctuoidea entwickeltes Motiv für eine Fliese, die aus sandigem Ton gepresst wird. Aus der einzelnen «Tile» wird durch die Vervielfältigung ein Fliesenteppich, ein kompaktes Muster, das für Amrei Wittwer nicht nur Dekoration ist, sondern vielmehr ein «politisch-erotisch-mystisches» Statement ihrer Auffassung von der Auflösung eines Kunstbegriffs weg vom Museum hin zu mehr Wirkung und – wenn man so will – magischer Funktion.

Eine solche Kunstauffassung ist das pure Gegenteil von rationalistischer Konzeptkunst oder Minimalismus: Stattdessen lassen sich Amrei Wittwers Arbeiten zum einen mit der Pattern & Decoration-Bewegung, mit deren Vorliebe für kunsthandwerkliche Techniken und Formenvielfalt und ihrer Ablehnung eines westlich und männlich dominierten Kunstbetriebs in einen Zusammenhang bringen. Zum anderen finden sich in ihren Werkserien viele Bezüge zum «Animismus», womit ästhetische Symptome gemeint sind, die unsere kategorialen Grenzziehungen zwischen Nicht-Leben und Leben, Ding oder Wesen, grundsätzlich in Frage stellen. Amrei Wittwer eröffnet den Zugang zu bestimmten Weltbildern, die unsere Auffassung von Moderne ins Wanken bringen können, ganz im Sinne von Bruno Latour: «Wir sind nie modern gewesen!»

Der wissenschaftliche Positivismus der Moderne gründete auf der kategorischen Trennung zwischen Natur und Kultur, trennte zwischen Innen und Außen, Körper und Geist, zwischen subjektiver und objektiver Welt. Der Animismus musste als (negatives, unzivilisiertes) Gegenbild dieses (positiven, aufgeklärten) Selbstverständnisses herhalten. «Animismus» bezeichnete für die Anthropologie im 19. Jahrhundert, dass Religion einem «Glauben an geistige Wesen» und der Zuschreibung von Leben, Seele oder Geist an unbelebte Objekte entspringe. «Das sind religiöse Praktiken, in der Regel sagt man Weltbilder, also Kosmographien, die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie die Natur oder die Objekte nicht objektivieren, sondern subjektivieren, das heißt sie wie Subjekte quasi wahrnehmen und behandeln», erläutert der Kurator Anselm Franke in einem Video den titelgebenden Begriff der Ausstellung über Animismus, die 2012 im Haus der Kulturen der Welt Berlin stattfand.

Mediathek des HKW Berlin

Die Aufhebung der Trennung zwischen Subjekt-Objekt, deren Gleichstellung und die Anerkennung der Wirkung von Dingen und Tieren auf den Menschen, ist der zentrale Anspruch einer Neubewertung der Moderne durch den Animismus, der so auch in den Kunstwerken von Amrei Wittwer zum Tragen kommt. Amrei Wittwer beschreibt ihre Intentionen dahingehend folgendermaßen: «Das Bestreben nach Gleichberechtigung, ähnlich wie nach verbindlichem Natur- und Tierschutz, wird heute als aggressives Vordringen in die Gesellschaft gesehen. Wir sollten anerkennen, dass wir als Menschen bedingt sind. Unserer animistischen Seele leuchtet das sofort ein.»

Mit ihren Fliesen, Keramikobjekten und Papierarbeiten knüpft Amrei Wittwer bewusst an ästhetische Symptome der «animistischen», vormodernen Kulturen an: Häufig finden sich Kreaturen, Mischformen von Geistern, Dämonen oder Tierwesen, deren Gestaltungsweise und mögliche Bedeutung die Paläontologen, Anthropologen, Ethnologen und Archäologen in ein Museum der außereuropäischen, animistisch geprägten, prähistorischen Kulturen verweisen würden. Amrei Wittwer schafft so ein Gegenbild zu einem wissenschaftlichen Zugang zur Natur, wofür beispielsweise die oben erwähnten Sammlungen des Naturhistorischen Museums stehen. Die naturhistorischen Sammlungen bewahren das Archiv der Zukunft, so der unheilvolle Titel eines Dokumentarfilms, den Jörg Burger im März 2024 in die Kinos brachte, denn es handelt sich um ein Archiv voller toter Lebewesen. Das Museum wird stellvertretend für unseren Umgang mit der Natur als ein Ort charakterisiert, in dem das «Handwerk am Objekt immer auch mit Fragen nach Wissenskonstruktionen und deren inhärenten Machtbeziehungen einhergeht. Die Spezies Mensch – als vermeintlich Betrachtende und Wissende – wird in ihrer Beziehung zu Tier, Natur und Historie schließlich selbst beobachtet.»

Archiv der Zukunft

Sobald das Objekt (das Lebewesen) aus seinem ursprünglichen Kontext herausgenommen und in ein Museum überführt wird, tritt es in ein anderes Feld ein, für das es zuerst einmal objektiviert, konserviert und «de-animiert» (also präpariert) werden muss. Das Objekt wird aus dem Fluss der Zeit genommen, jegliche Form der Zukunft und der Transformation muss ausgeschlossen werden.

Mit dieser Verwandlung, dem Prozess der Metamorphose des Lebewesens in ein Objekt, lässt sich die Serie von großformatigen, realistischen Malereien Amrei Wittwers zwar in einen Zusammenhang bringen, aber es handelt sich um den gegenteiligen, umgekehrten Vorgang: Die Künstlerin agiert als Animatorin des Objekts. Im Unterschied zu den symbolhafteren Arbeiten auf Keramik und Papier ist diese Serie realistischer, naturalistischer, handelt sie doch von der Artenvielfalt, Schönheit und Fragilität der vom Aussterben bedrohten Nachtfalter. Auf der Leinwand (wie im Film!) entsteht auf diese Weise die «Projektion» eines in seiner «animistischen» Wesenhaftigkeit aufgefassten Abbildes der Natur. Die Künstlerin malt jede einzelne Schuppe, jede Pigmentabstufung und jeden Millimeter in einem langwierigen Prozess auf die Leinwand.

So wie die Künstlerin selbst, so sind im Maßstabsvergleich zum vergrößerten Nachtfalter auch die «Betrachtenden und Wissenden» verkleinert. Spätestens in diesem Moment wird die Verwandlung (und Gleichstellung?) im Werk von Amrei Wittwer überdeutlich: Dieser Nachtfalter ist ein Subjekt, kein Objekt in den Händen der Wissenschaft, wie im Museum.

Eine vergleichbare «Projektion» der menschlichen Innenwelt (der Psyche) auf die Außenwelt wurde von der Psychoanalyse thematisiert. Psyche ist das griechische Wort für Schmetterling, als Symbol für die Seele, Atem, Hauch, auch wegen seiner Metamorphose. Die Psychologie verwendete «Animismus», um einen psychischen Entwicklungszustand (des Menschen, der Kulturen, eines Weltbildes) zu bezeichnen, der Innen- und Außenwelt noch nicht trennte beziehungsweise nicht zu trennen vermochte. In einem Kapitel von Totem und Tabu schreibt Sigmund Freud jedoch – nicht ganz so abwertend – es gebe einen Bereich, in dem unsere moderne Zivilisation sich den Animismus noch bewahrt (!) habe, das sei der Bereich der Kunst.

Noctuoidea (Nachtfalter) wird bei Amrei Wittwer zu einem Wesen, das in der Kunst sein Refugium, einen Zufluchtsort, finden soll. Stellvertretend symbolisiert der Nachtfalter die Unterwerfung der Natur durch die Kultur, wird aber zugleich von der Künstlerin mit einer neuen Macht ausgestattet, einer Art Magie. Der/die Betrachter/in wird auf sich zurückgeworfen und sich seiner selbst bewusst beim Betrachten (und Beachten) des Naturwesens, als Sinnbild eines psychischen Entwicklungszustands, bei dem Innen- und Außenwelt ineinander verschmelzen. In ihrer Kunst verbindet Amrei Wittwer auf diese Weise den wissenschaftlich-forschenden Blick auf die Natur, der seit Descartes von einer kategorischen Subjekt-Objekt-Trennung ausging, mit dem radikalsten Gegenbild zu dieser Sicht auf die Welt, dem Animismus.