Ausschnitt Amrei Wittwer: Kulttischchen (Hunde) 2023, Frühzeitliche Aufrufung zur Besänftigung nichtmenschlicher Personen 23/24, Dose mit Echse/Lizardbrain 2022, Artefakte/Schnecken 2018, Figurinen/Herrin der Tiere/Venus von Monruz 2025

Theriomorphe. Artefakte zur Beschwörung

Magazin 4 Bregenz

gr. therion -Tier, morphe -Gestalt

 Adlassnigg und Wittwer berufen sich in ihrer Arbeit auf die ältesten Figuren der Menschheitsgeschichte, auf Mischwesen von Mensch und Tier. Sie erschaffen Objekte mit zeitloser Wirkung, kultisches „Werkzeug" für den Zu- und Umgang mit dem Anderen. Sie verfolgen damit den Wunsch nach einer Unio Mystika, der Mitgeschöpflichkeit mit allen Lebewesen.

Courtesy: Galerie Lisi Hämmerle

Ausstellungsrundgang

Heilung an der Schnittstelle

Die bildende Kunst stand wohl seit Menschengedenken in den Diensten der Magie und der Religion. Moderne Forschung erlaubt über den Analogieschluss Aussagen über die Bedeutung prähistorischer Mischwesen wie der Löwenmensch von Holenstein-Stade, (40 000 Jahre, Schwäbische Alb) und erklärt ihre animistische Funktion: Wenn alle das gleiche Innere, die gleiche Interiorität teilen und sich nur durch das Äussere, die Exteriorität unterscheiden, stellt der Gestaltwechsel, die äussere Metamorphose, der naheliegendste Kommunikationsweg in Konfliktfeldern zwischen Menschen und Nichtmenschen dar. Der Körper gilt als Hülle, die wie ein Kleid abgelegt und ein anderes übergestreift werden kann. Der Übergang vom Tier zum Menschen und vom Menschen zum Tier ist eine Konstante der animistischen Ontologien, sie ist bevölkert von einer Fülle von Zwischenwesen – Theriomorphen. Virtuose Gestaltwandler, Grenzgänger zwischen den Welten und Verhandler bei den Konflikten – man könnte sie Heiler nennen. Ihr Werkzeug eignet sich zur Besänftigung menschlicher und nichtmenschlicher Personen. Es erzeugt einen kultischen Raum in beliebigen Kontext, es wirkt an der Schnittstelle, am Interface.

AW 12.6.25

Prähistorische Psychologie moderner Welten

Hierarchie, Theismus und Patriarchat existieren nur seit 0,1% der Menschheitsgeschichte. Unser Körper, Geist und Emotionen wurden geprägt in egalitären, gleichberechtigten Strukturen. Der Animismus gilt als Grundzug des menschlichen Denkens, der viel älter ist als der Glaube an Götter. Es handelt sich um keine ursprüngliche Religion, sondern um eine Art, die Welt wahrzunehmen und zu interpretieren. Ethnologen, Archäologen und Evolutionstheoretiker gehen davon aus, dass die mentalen Logiken der Menschen über die Zeiten und Kulturen hinweg konstant sind. Wir seien die gleichen Menschen wie unsere Vorfahren vor Hunderttausenden von Jahren, unsere Psychologie sei als Anpassung an die prähistorische Umwelt entstanden, und wir trügen sie nach wie vor in uns. - Nur die Welt habe sich radikal verändert. Wir Menschen hätten eine Tendenz zum Leib-Seele Dualismus, dazu, alles um ihn herum als animiert, beseelt, von Geist erfüllt zu betrachten. Die mentale Logik des Animismus lautet: Alle lebendigen Wesen teilen die gleiche Natur, nur das Äussere unterscheidet sich. Der Körper ist ein Gefäss oder Kleid, das ausgetauscht werden kann. Alle Lebewesen gehören eine grossen Gemeinschaft an, die gute Beziehung ist maßgebend für das Wohlbefinden aller.

 Sind die Beziehungen im Lot?

Als Wesen, deren Überleben von der funktionierenden Kooperation einer Gruppe abhing, besitzen wir ein feines Sensorium dafür, ob unsere Beziehungen im Lot sind. Und dazu gehören menschliche und nichtmenschliche Wesen. Dieses soziale Netz war die längste Zeit der Menschheitsgeschichte unsere Lebensversicherung. Wir sorgten uns um die Anderen und konnten uns deshalb in der Not auf sie verlassen. Ist das nicht der Fall, droht Gefahr: Entweder durch Zorn oder Rachsucht jener, die wir vernachlässigt haben, oder durch mangelnde Unterstützung. Alleinsein war die längste Zeit unserer Evolution ein Todesurteil. Wen wundert es da, dass die Einsamkeit heute einer der Hauptfaktoren für Depression und Krankheiten aller Art ist?

Metaphysische Unruhe

Unsere animistische Natur bedingt aus animistischer Sicht zwei problematische Bereiche, die von früh an spirituelle Intervention nötig machten: Das Töten von Tieren, das Auftauchen von Krankheiten, Alter und Tod. Quasimitmenschen zu töten und sich von ihnen zu ernähren ruft eine „metaphysische Unruhe“ hervor. Dieser Verrat kann Rache nach sich ziehen. Krankheit, Schmerz und Unheil sind in der animistischen Vorstellungswelt stets das Werk von Akteuren. Für Philippe Descola entstammt die grösste Gefahr des Daseins daher, dass „die Nahrung der Menschen ganz und gar aus Seelen besteht“. Die Idee des Kreislaufes, des ständigen Austausches der das Leben überhaupt ermöglicht sei den Menschen jedoch immer einsichtig gewesen. Die reziproke Lösung laute: Schutz und Heilung erfordern die Kommunikation, Interaktion und Besänftigung anderer Wesen. 

Reziproke Beziehungen

Wer will oder kann heute in animistischer Weise an Geister, an eine Beseeltheit der Natur glauben? Für viele von uns mag das nicht mehr möglich sein, auch wenn im sogenannten Brauchtum oder der Esoterik ähnliche Ideen gepflegt werden. Wenn uns die guten Geister abhandengekommen sind und wir in urzeitliche soziale Defizite geraten, gibt es einen zeitgemässen Ausweg: Wir sollten in stabile Beziehungen zu echten Menschen investieren, in Beziehungen, die auf Gegenseitigkeit beruhen. Und anerkennen, dass alle Lebewesen zu einer allverbundenen Welt gehören. Unserer steinzeitlichen Seele leuchtet das sofort ein.

AW 12.6.25

Amrei Wittwer, Figurinen/Herrin der Tiere/Venus von Monruz 2025
Grünware am Trocknen